1968 für Marokko und Mexiko

Das Hippie-Paradies und ein Massaker

21:38 Minuten
Studentenproteste in Mexiko 1968
Sicherheitskräfte gehen gegen Studentenproteste 1968 in Mexiko vor. © picture-alliance/ dpa
Von Anne-Katrin Mellmann und Alexander Göbel · 10.04.2018
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Kurz vor den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 ließ die Regierung Studentenproteste blutig niederschlagen. Bis heute ist das Tlatelolco-Massaker nicht aufgearbeitet. Dagegen war Marokko 1968 eine Oase der Freiheit für Tausende Hippies, einige blieben.
"Wow! Bitte erzähle uns von der Zeit, wir sind neidisch", fragen Jüngere oft Rotraut Viallon-Kallinich. Mit 19 kam die Westfälin 1968 nach Marokko. Seit dem nennt sie sich "RoRo" und verliebte sich in das damals erstaunlich liberale Land mit dem ganz besonderen Lebensgefühl, das Hippies, Schriftsteller, Musiker wie Jimi Hendrix oder Bekanntheiten wie Uschi Obermaier anzog.

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Marokko war 1968 bunt und frei

In Marrakesch war es "unglaublich schön und frei und jeder hatte seinen Platz". Es gab "verschleierte Frauen, Frauen mit Miniröcken", beschreibt Rotraut Viallon-Kallinich ihre ersten Eindrücke im neuen Land. Mit Anfang 20 kommt ihr erstes Kind. Zusammen mit ihrem damaligen französischen Mann genießt sie die Unbeschwertheit. Sie zelten am Strand, wandern in den Bergen, rauchen Haschisch - die Demonstrationen und Unibesetzungen in Deutschland sind weit weg.
"Dadurch, dass dieses Marokko so bunt und so spannend war. Und zu dieser Zeit auch soviel Liebe unter den Menschen war, da war das ein bisschen in den Hintergrund geraten. Wir hatten Wärme, Herzlichkeit und mussten eigentlich nur glücklich sein."
Rotraut "Roro" Viallon-Kallinich (hier mit ihrem zweiten Mann Herbert) kam 1968 nach Marokko und betreibt heute ein Hotel in Sidi Kaouki.
Rotraut Viallon-Kallinich mit ihrem zweiten Mann Herbert. Sie betreibt heute ein Hotel im Süden Marokkos - in Sidi Kaouki.© Deutschlandradio/ Alexander Göbel
Später folgten Marokkos bleierne Jahre. Auch der Tourismus veränderte sich. Es gehe heute mehr um Konsum, weniger um Begegnung, beklagen einstige Hippies.

Mexiko und das Massaker von Tlatelolco - ein Trauma

Die Regierung Mexikos will Ruhe, wenn erstmals im Oktober 1968 in Lateinamerika das Olympische Feuer brennt. Die Studentenproteste in Mexiko-Stadt stören da nur. Am 2. Oktober, zehn Tage vor Beginn der Spiele, schreiten die Sicherheitskräfte ein und schlagen eine friedliche Demonstration von rund 8000 Teilnehmern im Stadtteil Tlatelolco brutal nieder. Schüsse fallen, rund 300 Tote und unzählige Verletzte sind die Bilanz des Oktobertages, der in dei Geschichte Mexikos eingehen sollte.
"Mit den Prinzipien einer Demokratie, Zivilisation, Ethik hatte das nichts mehr zu tun - das war nur noch brutal", erinnert sich der damalige Studentenführer Gilberto Guevara Niebla, der überlebte, in Haft kam und gefoltert wurde. In Erinnerung an die bis heute nicht aufgearbeiteten Ereignisse, demonstrieren jedes Jahr am 2. Oktober Hunderte in Mexikos Hauptstadt.
Teilnehmer eines Protestmarsches erinnern an die Opfer des Massakers von Tlatelolco am 2. Oktober 1968.
Jährlicher Protestmarsch für die Opfer des Massakers von Tlatelolco am 2. Oktober 1968.© imago/ZUMA Press
Bis heute gibt es kein Wort der Entschuldigung für die Opfer, eine Aufarbeitung des Massakers von Tlatelolco fand nie statt. Das hindert Mexiko an einer demokratischen Entwicklung, sagt Guevara Niebla. Damals sei "Demokrat" ein Schimpfwort gewesen. Auch 50 Jahre später fehle es an demokratischer Kultur.

Tunesien erstickt Proteste im Keim

Der französische Agrarwissenschaftler Gilbert Naccache ist Anfang 20, als er vom Studium in Paris 1962 nach Tunesien zurückkehrt. Die Ideen für eine andere moderne, demokratische Gesellschaft stoßen auf Ablehnung. In Paris gehörte er mit vielen anderen Tunesiern zu einer linken Bewegung.
"Wir wollten diskutieren, uns austauschen, es ging um den Dialog, aber wir fühlten uns gezwungen uns zu radikalisieren, damit dieser Staat uns überhaupt wahrnimmt."
Ab 1967 gibt es größere Demonstrationen, Tunesien atmet erstmals Revolutionsluft. Ausgerechnet die Universitäten, die als Kaderschmieden für den Machtapparat dienen sollten, werden zu Zentren des Widerstands. Die Regierung greift hart durch, inhaftiert Tausende und erstickt die Proteste im Keim. Gilbert Naccache muss für elf Jahre in Gefängnis - und schreibt auf die leeren Zigarettenschachteln der Marke Cristal seinen ersten Roman "Cristal". Dass er heute im Alter von 79 Jahren voller Hoffnung ist, macht ihn zum Vorbild vieler junger Tunesier, die sich nach Reformen sehnen.
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