17. Jahrhundert

Höhere Menschenkunde

Schloss Versailles im 17. Jahrhundert: Auf einem Gobelin von Ludwig XIV. sind Bedienstete zu sehen, die sich um die Silbermöbel kümmern.
Schloss Versailles im 17. Jahrhundert: Auf einem Gobelin von Ludwig XIV. sind Bedienstete zu sehen, die sich um die Silbermöbel kümmern. © picture alliance / dpa / Maxppp Dider Saulnier
Von Ruth Jung · 15.12.2013
La Rochefoucauld, selbst Hochadliger, kritisierte die Selbstsucht und das Machtstreben der Aristokraten. Als Anführer der Revolte gegen die Monarchie und Ludwig XIV. scheiterte er. Ihm blieb der Rückzug in die Salons und die Literatur.
"Ha! Madame, welche Verderbtheit muss man im Geist und im Herzen haben, um fähig zu sein, sich alles das auszudenken!"
entrüstete sich die Schriftstellerin Madame de La Fayette in einem Brief an Madame de Sablé über das 1665 erschienene Werk eines Autors, mit dem sie bis dahin eine enge Freundschaft verbunden hatte: François de La Rochefoucauld. Wie sie selbst war der aus dem Hochadel stammende Schriftsteller ein prominenter Gast im Salon der Madame de Sablé gewesen. Als hätte La Rochefoucauld eine solche Reaktion vorausgesehen, heißt es in seinem Buch als „Vorbemerkung an den Leser“:
"Dies ist ein Bild des menschlichen Herzens, welches ich dem Publikum unter dem Titel ‚Sätze aus der höhern Welt- und Menschenkunde‘ vorlege. Es wird nicht allen gefallen, denn man wird es allzu nahe an der Wahrheit und allzu fern jeglicher Schmeichelei finden."
Die Gabe, viel Sinn in wenig Worte zu legen
Egoismus, Geltungsdrang, Machttrieb. Um diese Themen kreisen die "Réflexions ou Sentences et Maximes Morales", eine Sammlung von über 600 Aphorismen, an deren negativem Menschenbild die höfische Gesellschaft Anstoß nahm. Dabei war der am 15. Dezember 1613 auf Schloß Verteuil in Südwestfrankreich geborene La Rochefoucauld alles andere als eine "verdorbene Seele". Vielmehr hatte er sich den Ruf eines scharfsinnigen Menschenkenners und weitsichtigen Beobachters der politischen Verhältnisse erworben.
"Wie es der Charakter großer Geister ist, viel Sinn in wenig Worte zu legen, so ist es die Gabe kleiner, viel zu sprechen und nichts zu sagen."
... heißt es in einer der Maximen von La Rochefoucauld, der seinerseits meisterhaft die Gabe beherrschte, viel Sinn in wenig Worte zu legen. Vor Augen hatte der Herzog eine von Lastern und Doppelmoral geprägte aristokratische Welt, die alle Anzeichen des Verfalls aufwies. Präzise sezierte er deren von Selbstsucht und Machtstreben gelenkte Leidenschaften. Er selbst war das Opfer von Intrigen und Machtspielen geworden: Eine von Kardinal Richelieu 1639 in Aussicht gestellte Karriere am Königshof scheiterte, weil La Rochefoucauld der sich etablierenden absolutistischen Monarchie als Repräsentant eines alten Adelsgeschlechts politisch nicht genehm war.
Alle Mittel waren dem König recht, um die territoriale Herrschaft des alten Adels zu brechen. La Rochefoucauld, der während des französisch-spanischen Krieges als Offizier im Dienste der Krone gestanden hatte, wurde nun ein Anführer der Fronde, der blutigen Revolte gegen die Monarchie. Nachdem Ludwig XIV. 1648 das Parlament in Paris entmachtet hatte, kam es zum offenen Kampf des mit dem Pariser Großbürgertum verbündeten Adels.
"Die Fronde musste scheitern", schreibt der Romanist Erich Köhler über die Niederlage der Revolte.
"Die ungleichen Bundesgenossen Hochadel und Bürgertum hatten sich beim Aufstand gegen die Monarchie in der historischen Stunde geirrt. Für den Feudaladel war es zu spät, für die Bourgeoisie zu früh. Für mehr als hundert Jahre hatte der Absolutismus in Frankreich nichts mehr zu befürchten."
Rückzug in die Salons
Während der letzten Kämpfe im Sommer 1652 an der Porte Saint-Antoine in Paris war La Rochefoucauld schwer verletzt worden, sein Schloss hatten königliche Truppen zerstört. Hochverschuldet und ernüchtert zog sich der Herzog 1656 nach Paris zurück. Politisch zur Bedeutungslosigkeit verdammt, blieb dem alten Adel die kultivierte Geselligkeit in den aufblühenden Salons. Unter der Führung geistreicher Frauen entwickelte sich hier eine einflussreiche literarisch-politische Gegenöffentlichkeit. In diesen Kreisen war das Verfassen von Porträts und Aphorismen zu einem Gesellschaftsspiel geworden. Ob La Rochefoucauld seine Maximen tatsächlich veröffentlichen wollte, ist nicht geklärt. Aber nachdem eine schlechte Abschrift in Umlauf geraten war, entschloss er sich zur Publikation. Zwischen 1665 und 1678 erlebte das Buch fünf Auflagen.
"Es geht eine allgemeine Revolution vonstatten, die den Geschmack der Geister ebenso wie die Geschicke der Welt verändert."
heißt es in einer der letzten Maximen. Weitsichtig wie er war, hatte François de La Rochefoucauld begriffen, dass er einer untergehenden Klasse angehörte. Er starb am 17. März 1680 in Paris. Gut hundert Jahre nach seinem Tod begann die Französische Revolution.