15 Jahre nach dem Amoklauf von Erfurt

"Angst, die man nicht vergisst"

Trauernde am 28.4.2002 vor dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, wo zwei Tage zuvor ein 19-jähriger ehemaliger Schüler bei einem Amoklauf 16 Menschen und sich selbst getötet hatte
Zwei Tage nach dem Amoklauf: Trauernde Schüler vor dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt © dpa / picture alliance / Stephanie Pilick
Von Henry Bernhard · 26.04.2017
Vor 15 Jahren tötete ein von der Schule verwiesener Schüler 16 Menschen am Erfurter Gutenberg-Gymnasium und dann sich selbst. Ein Lehrer, der damals überlebt hat, erinnert sich - und freut sich über viele Jahre "geschenkte" Lebenszeit.
Ende März wurde vor dem Gutenberg-Gymnasium Erfurt eine Glocke gegossen – zur Erinnerung an den Amoklauf vor 15 Jahren. Auf der Treppe zur Schule standen Hunderte Menschen – Schüler, Lehrer, viele Ehemalige darunter.
Nicht dabei war Lutz Pockel – er ist Lehrer für Mathe, Physik, Astronomie und Darstellendes Gestalten am Gutenberg-Gymnasium.
"Nein. Nein, ich bin da nicht hingegangen. Genau, wie ich am 26. April nicht in der Schule bin, das habe ich mir zum Ritual gemacht, dass ich an dem Tag, wo ich damals so lange eingesperrt war, alles andere als eingesperrt sein und an Vorschriften mich halten möchte. Ich möchte an dem Tag total frei sein."
Damals, am Freitag, den 26. April 2002, führte Lutz Pockel Aufsicht bei der Mathe-Abiturprüfung. Der Raum lag in der obersten Etage der Schule. Sie hörten lautes Knallen, vermuteten erst Handwerker, aber nach einem Anruf in der Schulleitung war klar: Es waren Schüsse.

In Panik fliehende Schüler, eine planlose Polizei

Pockel, ein Kollege und 45 Schüler warteten dreieinhalb Stunden in dem Raum, ohne zu wissen, was passiert war, was noch passieren könnte. Durch die Fenster sahen sie in Panik fliehende Schüler und Lehrer und eine zunächst planlose Polizei. In einem Interview sagte Pockel damals:
"Keiner hat den Satz gesagt: Hoffentlich kommen wir hier raus! Hat keiner gesagt! Aber alle haben´s gedacht! Wir haben nichts gemacht, wir haben nur gewartet. Jeder war mit sich beschäftigt. Das ist eine Angst, die ich keinem wünsche. Eine Angst, die man auch nicht vergißt. Eine Angst, die auch lange noch in mir drin war. Die Angst hat sich in mich reingefressen."
Als das Sondereinsatzkommando der Polizei sie nach dreieinhalb Stunden dann befreit hatte, mussten sie an Leichen vorbeigehen: Ein von der Schule verwiesener ehemaliger Schüler hatte innerhalb von zwölf Minuten elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten erschossen.
Pockel ist nach reiflicher Überlegung an der Schule geblieben und war lange in psychologischer Behandlung. Gleichzeitig mussten er und seine Kollegen die traumatisierten Schüler stützen. Dazu kam das Nachdenken über den Täter.
"Ich war der Physiklehrer von Robert, bis er unsere Schule verlassen hat. Er war nicht der Typ, den man dafür hält. Sagen wir mal so: Ich hab mich an anderen Schülern viel mehr gerieben, deshalb ist ja bei den anderen manchmal viel mehr rausgekommen dabei! Aber ihn habe ich gar nicht erreicht."

15 Jahre Lebenszeit als Zugabe

Solche Gedanken macht sich Lutz Pockel heute nur noch selten. Vor 15 Jahren hat er sich ein knallrotes Sport-Coupé gekauft. Wann, wenn nicht jetzt, hat er sich damals gefragt. Das Auto fährt er noch immer. Es geht ihm gut. Die Lebenszeit der letzten 15 Jahre sieht er als Zugabe.
"Ich bin bestimmt im Leben mutiger geworden, was zu wagen und schrecke nicht mehr vor Dingen zurück, vor denen ich vielleicht vor 15 Jahren noch zurückgeschreckt bin, also ich habe mir gesagt: Das Leben, was mir dazu geschenkt worden ist an dem Tag, als Zugabe, soll ich auch nutzen, und habe das dazu genutzt, die Welt kennenzulernen, Menschen kennenzulernen und mich selber mit etwas zu umgeben, was mir guttut. Und das heißt für mich: Die Welt zu erforschen. Und ich bin wahrscheinlich heute an einem Punkt, wo ich sage: Eigentlich ist das Leben wunderschön; ich bin in einer Partnerschaft, die gibt mir Perspektive und gibt mir auch Sicherheit."
Aber es gibt auch dunkle Stunden. Jedes Jahr, wenn der 26. April näher rückt, oder in dem Unterrichtsfach, in dem er so viele Kollegen und Freunde verloren hat. Die Schüler von heute will er damit nicht belasten – für die seien das Geschichten aus einer fernen Vergangenheit, die er nur auf Nachfrage erzählt. Auch Nachrichten hört er anders als früher.
"Es ist immer wieder da. Und wenn immer wieder so etwas passiert, eine Gewalt gegenüber Menschen, sehe ich das natürlich aus den Augen eines Menschen, der das mal miterlebt hat. Und da das immer aktueller wird, mit Amokläufen, mit Terroranschlägen, dann kriege ich schon immer ein bisschen Gänsehaut."

Alle haben damals das Richtige gemacht

Einiges hat sich verändert seit 2002: Die Polizei ist für Amoklagen geschult, die Waffengesetze wurden dank der Waffenlobby nur minimal verschärft, in Schulen gibt es Warnsysteme.
"Das kann helfen. Letztendlich muss man aber in der Situation ganz schnell Entscheidungen treffen, da kann ich nicht mehr in einen Ordner gucken. Aber bei uns damals haben die Leute, die in der Schule waren, intuitiv das Richtige gemacht. Alle haben das Beste für die Schüler gemacht. Auch, wenn sie dabei zum Teil erschossen worden."
(ahe)
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