"15, 20 Euro Kindergeld weniger ausschütten"

Ilse Wehrmann im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 11.10.2010
Deutschland habe das höchste Kindergeld in Europa und die schlechteste Infrastruktur bei der Betreuung, sagt Ilse Wehrmann. Die pädagogische Beraterin schlägt vor, weniger Kindergeld auszuzahlen und mehr in die Einrichtungen und eine Qualitätskontrolle zu investieren.
Jan-Christoph Kitzler: Kinderförderungsgesetz – das klingt erst mal gut, ist aber ein ziemlich ehrgeiziges Projekt. Denn konkret heißt Kinderförderungsgesetz, dass Kleinkinder ab ihrem ersten Geburtstag und ab 2013 einen Rechtsanspruch haben auf einen Kitaplatz. Nicht alle werden das in Anspruch nehmen, nur für 35 Prozent aller unter dreijährigen Kinder soll es einen Platz geben, 750.000 neue Plätze insgesamt. Vier Milliarden Euro lässt sich das der Bund kosten, aber vor allem für die Kommunen ist es eine ziemliche Kraftanstrengung und entsprechend viele Klagen gibt es. Zum Glück engagieren sich inzwischen auch viele Unternehmen in Deutschland für die Kinderbetreuung und einige werden dabei beraten von Ilse Wehrmann, einer der profiliertesten Expertinnen in Sachen frühkindlicher Bildung. Guten Morgen!

Ilse Wehrmann: Guten Morgen!

Kitzler: Sie beraten zum Beispiel Konzerne wie Daimler, RWE oder die Deutsche Telekom. Was bringt denn die Unternehmen dazu, sich bei der Kinderbetreuung zu engagieren?

Wehrmann: Ich glaube die Unternehmen haben alle das gleiche Problem, dass ihnen Fach- und Führungskräfte fehlen und sie häufig Erfahrung mit Belegplätzen gemacht haben, die ihnen aber nicht die Qualität und nicht die Flexibilität bringen, und Kinderbetreuung ein Wettbewerbsvorteil für Unternehmen ist und sie unter qualitativen Aspekten glaube ich, weil sie häufig auch einen internationalen Blick haben, entsprechende Ansprüche haben. Und insofern stelle ich mir vor, damit Leuchttürme zu schaffen, die vielleicht für ganz Deutschland wirken könnten. Entscheidend ist aber, dass Geld in die Hand genommen wird. Denn gerade bei kleinen Kindern ist die Frage der Qualität besonders hoch einzuschätzen und wir haben in Deutschland zurzeit nur die Quantität im Blick, nicht die Qualität. Und in Konzernen dauert häufig der Aufbau in der üblichen Kinderbetreuung im öffentlichen Bereich zu lange und ist zu schwerfällig. Ich glaube selber ja nicht, dass wir bis 2013 die 35 Prozent erreichen werden, die ja dann nur eine Wahlmöglichkeit darstellt, mehr nicht. Die vier Milliarden haben Sie ja mit Recht angesprochen, dazu gehören ja noch vier Milliarden der Ländern und vier Milliarden der Kommunen, und die Länder sind auch sehr zurückhaltend mit ihrem Zur-Verfügung-Stellung der Gelder und die Kommunen sind natürlich die Letzten, die zurzeit überhaupt gar keine Finanzmöglichkeiten mehr haben. Deshalb geht der Aufbau so schleppend voran.

Kitzler: Das, was da entsteht auf Ihre Beratung hin bei den Unternehmen, sind das abgeschlossene Inseln der Glückseligkeit für ohnehin gut bezahlte Facharbeiter oder Führungskräfte?

Wehrmann: Nein, das kann man nicht sagen. Bei Daimler und bei RWE und bei Telekom sind wir offen für alle Mitarbeiterkinder, für Fachkräfte, für Arbeiter genau so wie für Führungskräfte. Bei RWE ist es sogar gelungen, in einen sozialen Brennpunkt zu gehen und 20 Prozent der Plätze dem Stadtteil zur Verfügung zu stellen. Das heißt, da übernimmt ein Wirtschaftsunternehmen – was ich wichtig finde – auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Funktion. Ich glaube, wenn die Betriebskindergärten auch in öffentliche Finanzierung kommen, dann müssen sie auch die Verpflichtung eingehen, dass sie für alle Kinder offen sind. Wenn man sie nicht in die staatliche Finanzierung und Bedarfszahlung aufnehmen würde, dann sind sie häufig in der Situation, weil dann einfach alleine sie die ganze Sache parken müssen, dass sie dann häufig nur ihre Führungskräftekinder aufnehmen. Aber was uns auszeichnet sozusagen in den Unternehmen, wofür ich auch stehe mit meinem langen sozialen Engagement in der Kirche, ist, dass wir auch behinderte Kinder aufnehmen, dass wir von entwicklungsverzögerte Kinder aufnehmen, dass wir selber kochen und dass wir zweisprachig erziehen. Also wir versuchen, das auf internationalem Niveau zu machen, aber ich bin deutlich der Auffassung, die Bildung darf nicht in die Hände der Wirtschaft abrutschen, Wirtschaft kann nur Impulsgeber und Leuchtturm sein. Dann müsste es eigentlich ein Flächenbrand werden.

Kitzler: In den Betriebskindergärten, die Sie einrichten, herrschen – das habe ich gelesen – Bedingungen, von denen kommunale Kindertagesstätten nur träumen können zum Beispiel beim Betreuungsschlüssel: Ihr Standard sind drei Erzieher – und zwar gut ausgebildete Fachkräfte – auf zehn Kinder unter drei. Zum Beispiel in Brandenburg kommen seit Neustem etwas über 1,6 Erzieherinnen auf zehn Kinder und das ist schon eine Verbesserung gegenüber vorher. Scheitern Ihre Ziele nicht zwangsläufig am Geld?

Wehrmann: Na ja es gibt Bundesländer wie Baden-Württemberg und Bayern, da ist der Betreuungsschlüssel genau so wie in diesen Unternehmen, die Sie als Beispiel genannt haben. Der Betreuungsschlüssel ist vor allem in Norddeutschland so viel schlechter, in Niedersachsen auch so ähnlich, wie Sie es eben zitiert haben. Und ich denke, die Finanzkraft einer Kommune und die Ansicht eines Bürgermeisters in Deutschland entscheidet über die Entwicklung von kleinen Kindern. Deshalb plädiere ich dafür, dass wir einheitliche Rahmenbedingungen in Deutschland kriegen, und dann müsste man vielleicht auch so mutig sein und einen Paradigmenwechsel vollziehen, das heißt: Kindergeld weniger und dafür mehr in Infrastruktur investieren. Wir haben keine Chancen auf Chancengerechtigkeit in Deutschland gegenwärtig, weil das einzelne Bundesland und die einzelne Kommune entscheidet, und da gibt es ein großes Nord-Süd-Gefälle und ein großes Ost-West-Gefälle. Der Süden investiert da sehr viel mehr und da ist der Betreuungsschlüssel nicht so exotisch abweichend von dem der Konzerne.

Kitzler: Das heißt, das Geld, was jetzt an einzelne Familien ausgeschüttet wird eben zum Beispiel als Kindergeld, das müsste mehr in Struktur investiert werden?

Wehrmann: Ja. Wir haben das höchste Kindergeld in Europa und die schlechteste Infrastruktur. Und hier bricht uns der Föderalismus eigentlich das Genick und ich wünsche mir über eine Expertengruppe, dass wir vielleicht 15, 20 Euro Kindergeld weniger ausschütten und dafür eine verlässliche Infrastruktur schaffen nach internationalen Standards und vor allem auch natürlich die Qualität prüfen lassen. Das ist das nächste Manko, dass in Deutschland keiner kontrolliert, wie die Qualität in Kindergärten ist. Jede Erzieherin kann arbeiten, wie sie will, und jeder Träger auch arbeiten, wie er will, keinerlei Qualitätskontrolle. Und ich denke aber, bevor man Qualität kontrolliert, müsste man erst mal auch die Rahmenbedingungen einheitlich steuern.

Kitzler: Und zurzeit ist es so, dass Bildung, frühkindliche Bildung vor allem, in Deutschland Glückssache ist, je nachdem, in welcher Kommune man wohnt.

Wehrmann: Genau so ist es. Viele Kommunen entdecken das als Wettbewerbsvorteil für Familien, aber lange nicht alle. Im Grunde hängt es fast an dem Lebensentwurf des Bürgermeisters, wie er das für sich selber einschätzt. Wir haben keinen Konsens für ein modernes Familienbild, und damit auch nicht für die frühkindliche Bildung. Ich denke eigentlich, nach unten gehören die Bestausgebildetsten, auch gerade in dieser Zeit vermittelt man Haltung, nicht nur Wissen, und da gehören die Bestausgebildetsten. Wir haben aber in Deutschland uns immer auf Schule fokussiert und nicht auf den frühkindlichen Bereich, je kleiner die Kinder, desto schlechter ausgebildet das Personal. Das ist international genau andersrum und auch an dieser Stelle müssten wir zu einem Paradigmenwechsel kommen.

Kitzler: Besteht bei Ihrer Arbeit aber nicht die Gefahr, dass sich sozusagen ein Zweiklassensystem manifestiert: Hier die gut ausgestatteten Unternehmenskitas und dort die chronisch unterfinanzierten kommunalen Kindertagesstätten?

Wehrmann: Nein, was wäre die Alternative? Die Alternative wäre, sich den schlechten Rahmenbedingungen der Kommunen anzupassen. Meine Idee ist eben, mit der Wirtschaft zusammen Leuchttürme zu schaffen und mit der Wirtschaft zusammen Einfluss auf Politik zu nehmen, dass sich was ändern muss hier. Und ich glaube, es ist ein Thema der Männer geworden und ein Thema der Wirtschaft.

Kitzler: Sie machen sich stark für einheitliche Standards in ganz Deutschland. Wie kompliziert das ist, das sieht man ja schon bei den Schulen, da hat man den Eindruck, es wird eigentlich eher schlimmer, diese Diversifizierung unterschiedlicher Schulformen, unterschiedlicher Curricula. Wie hoffnungsvoll sind Sie denn, dass man das in den Kindertagesstätten hinbekommt?

Wehrmann: Ja, ich bin eigentlich so hoffnungsvoll, weil ich glaube es eben ein Thema der Männer und ein Thema der Wirtschaft geworden ist. Ich gebe Ihnen recht, in Schulbereichen driftet es weiter auseinander, im Kindergartenbereich auch. Wie gesagt, es hängt von der Finanzkraft einer Kommune ab. Jetzt haben wir zwar überall Bildungspläne in den Kindergärten, aber keiner überprüft die Implementierung und kontrolliert sozusagen die Standards, da müsste es zu einer Verabredung kommen. Da ist der Schulbereich schon ein bisschen weiter mit Vergleichsarbeiten, mit Kontrollen. Ich denke, ein unabhängiges Institut müsste in Deutschland auch die Qualität von Einrichtungen überprüfen. Aber vorweg gehen muss eigentlich eine Umschichtung zu mehr Infrastruktur, zu einer besseren Kinderbetreuung. Ich glaube, dass viele, viele Leute in Deutschland ein Problem mit Bildung haben und dass das von der Politik viel zu wenig zur Kenntnis genommen wird, und von daher hoffe ich sozusagen auf die Wirtschaft, dass die an dieser Stelle mehr Einfluss auf politische Gestaltung gewinnt.

Kitzler: Die Diskussion um mehr Kitaplätze und vor allem um mehr Qualität in der frühkindlichen Bildung, das war die Pädagogin und Beraterin Ilse Wehrmann. Vielen Dank und Ihnen einen schönen Tag!

Wehrmann: Danke!
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