100. Todestag der Komponistin Lili Boulanger

Eine Ausnahmetalent des Fin de Siècle

Von Michael Stegemann · 15.03.2018
Nur 24 Jahre alt wurde die französische Komponistin Lili Boulanger. 1909 trat sie offiziell am Pariser Conservatoire in die Kompositionsklasse von Paul Vidal ein - und gewann vier Jahre später den "Rompreis". Als erste Frau überhaupt - eine Sensation.
Der 24. Psalm: Eine Musik voll triumphierender Lebenskraft - von der Hand einer Komponistin, der doch diese Kraft ihr ganzes kurzes Leben lang fehlte: Gerade einmal 24 Jahre alt war die Französin Lili Boulanger, als sie am 15. März 1918 in Mézy-sur-Seine unweit von Paris starb.
Lili und ihre sechs Jahre ältere Schwester Nadia - eine berühmte Organistin, Musikpädagogin und Dirigentin, die sie um mehr als 60 Jahre überlebte - stammten aus einer alten Musiker-Dynastie. Lili wurde am 21. August 1893 in Paris geboren, und schon früh war ihre Hochbegabung deutlich geworden; doch ebenso früh begann auch ihre Kranken- und Leidensgeschichte: Seit ihrer Kindheit litt sie chronisch an Bronchialpneumonie und Morbus Crohn, so dass sie sowohl die Schule als auch das Musikstudium nur sporadisch wahrnehmen konnte.

Ihre frühen Werke hat sie vernichtet

Sie lernte Orgel, Klavier, Violine, Cello und Harfe und komponierte auch eifrig, hat jedoch ihre frühen Werke später sämtlich vernichtet. Einen Schwerpunkt scheinen damals schon Lieder und Chorwerke gebildet zu haben, die auch später im Zentrum ihres Schaffens standen - wie die Hymne au soleil von 1912.
1909 trat Lili Boulanger offiziell am Pariser Conservatoire in die Kompositionsklasse von Paul Vidal ein. Trotz ihrer prekären Gesundheit und vieler Unterbrechungen ihres Studiums gewann sie 1913 mit ihrer Kantate Faust et Hélène den begehrten Prix de Rome – den "Rompreis": die höchste Studienauszeichnung -, mit nur 19 Jahren und als erste Frau überhaupt in der 110-jährigen Geschichte des Conservatoire: eine Sensation!
"Mademoiselle Lili Boulanger zeigt eine starke gestalterische Kraft, die sich nicht in belanglose oder nebensächliche Einzelheiten verliert, was sofort verraten hätte, dass eine Frau die Musik komponierte. Wenn sie älter sein und sich weiterentwickelt haben wird, wird ihre jetzt schon augenfällige Begabung zweifellos reifen und sich erfüllen."

Das Glück war nicht von Dauer

Diese Prophezeiung eines Kritikers nach der erfolgreichen Premiere der Rompreis-Kantate erfüllte sich freilich nicht: Lili Boulanger trat zwar im Frühjahr 1914 ihr Preisstipendium in der Villa Medici in Rom an, aber Glück und Hoffnung, wie sie in dem Cortège für Violine und Klavier anklingen, waren nicht von Dauer.
Aus gesundheitlichen Gründen und wegen des drohenden Weltkriegs musste Lili Boulanger ihr Stipendium schon im August abbrechen und kehrte nach Paris zurück - im Bewusstsein, dass ihr nicht mehr viel Kraft und Zeit blieb. In fieberhafter Eile entstanden nun Lieder, Chorwerke, Kammermusiken, das Projekt einer Oper nach Maurice Maeterlincks La Princesse Maleine.

Altertümlich-modale Harmonik

Ihre Werke zeigen die zeitüblichen Einflüsse - Wagner, Fauré, Saint-Saëns und Debussy -, sind aber zugleich ganz eigenständig in ihrer oft altertümlich-modalen Harmonik und den fragilen, genau den vertonten Texten folgenden Melodielinien. 1916 eröffneten ihr die Ärzte, dass sie nur noch höchstens zwei Jahre zu leben habe.
"Ich begreife, dass ich niemals das Gefühl haben werde, das getan zu haben, was ich wollte. Denn ich kann nichts ohne Unterbrechungen tun, und die sind länger als meine Arbeitsphasen selbst!"
Sie konnte sich kaum mehr aufrecht halten, musste Noten und Briefe ihrer Schwester Nadia diktieren. Sie und Lilis Freundin Miki Piré betreuten sie nun fast rund um die Uhr, bis sie schließlich von ihren Leiden erlöst wurde. Eines ihrer letzten Werke trägt den Titel D'un soir triste, "An einem traurigen Abend".
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