"100 Jahre Kommunismus" in Weimar

Echte Reibung

Schatten von Tänzern und Ölpumpen vor Feuerwerk. Das Aktionstheater PAN.OPTIKUM eröffnet am 18.08.2017 auf dem Markt in Weimar (Thüringen) das Kunstfest 2017 mit dem Stück »Transition«.
Eröffnung Kunstfest Weimar 2017 © picture alliance / dpa / arifoto UG
Von Henry Bernhard  · 29.08.2017
Das Kunstfest Weimar setzt sich mit "100 Jahren Kommunismus" auseinander. Riskant, aber gelungen. Denn Kunstfest-Chef Christian Holtzhauer stellt die richtigen Fragen und mischt klug die richtigen Projekte.
Hanns Eislers Solidaritätslied liegt nahe, wenn das Thema "100 Jahre Kommunismus" lautet und man die Menschen auf dem Weimarer Schloßhof begeistern will. Aber es liegt auch die Gefahr nahe, dass man sich angesichts dieses Themas der hehren, menscheitsbefreienden und -beglückenden Grundidee Kommunismus widmet und die verbrecherische und mörderische Realität mit -zig Millionen Opfern als Fehlentwicklung abtut. Dessen ist sich Kunstfest-Chef Christian Holtzhauer bewusst. Gerade, weil mit der frühen kommunistischen Ikonographie, der mitreißenden Musik und dem futuristischen Aufbruch so gern gespielt wird.
Christian Holtzhauer: "Ich muss aber für mich ganz persönlich sagen, dass ich den Kommunismus auch nicht sexy finde. Ich habe mich aber zugegebenermaßen sehr lange gefragt, ob ich diese Überschrift, die ich über die Einleitung in unserem Programmheft geschrieben habe, "100 Jahre Kommunismus", ob ich die, wenn ich ein Kunstfest 2033 machen würde, durch "100 Jahre Nationalsozialismus" ersetzt hätte. Wahrscheinlich eher nicht. Es gibt tatsächlich ein solches Kokettieren."
Aber dennoch, meint Holtzhauer, könne man den 100. Jahrestag der Revolution in Russland nicht einfach übergehen, auch und gerade nicht im 500. Jahr der Reformation.
Christian Holtzhauer: "Ich finde, dass man die Opfer tatsächlich im Blick behalten muss. Ich teile aber auch nicht die Haltung, die sich in den frühen 90ern breitgemacht hat, als man vom "Ende der Geschichte" gesprochen hat und gesagt hat, nun lohnt es sich gar nicht mehr über Alternativen zur freien Marktwirtschaft in Kopplung mit der repräsentativen Demokratie nachzudenken, denn die hat sich ja eh als das beste aller Systeme herausgestellt. Vielleicht ist sie das auch; sie ist aber auch störanfällig, und insofern finde ich, über Alternativen muss man immer nachdenken können. Und da hilft manchmal auch der Blick in die Geschichte, um ein klareres Bewusstsein dafür zu bekommen, was man will und was man nicht will."

Zurückschauen bis der Nacken schmerzt

Geradezu paradigmatisch stand dafür das Dokumentar-Tanzstück "RED" der chinesischen Choreographin Wen Hui. Vier Tänzerinnen stampfen immer wieder auf und schauen zurück. Indem sie den Körper, den Kopf so weit nach hinten werfen, dass schon der Anblick schmerzt.
Hinter ihnen, in Videoprojektionen auf der Leinwand, liegt die Vergangenheit. Gefilmte Interviews mit Tänzern über das "Das Rote Frauenbataillon" – während der Kulturrevolution eine von nur acht sogenannten "Modellopern", die erlaubt waren: Schmerzhafte Erinnerungen an Demütigungen, an Gewalt, Terror, an die eigenen zerplatzten Träume.
Wen Hui: "We not really dance-dance. It’s more a body work, a body memory recall."
Wir tanzen nicht im klassischen Sinne, sagt Wen Hui, es ist eher Körperarbeit, eine Befragung des Körpergedächtnisses. Aber in einem Land, in dem Künstler noch heute immer wieder zum Schweigen gebracht werden, darf wenigstens der Körper ehrlich sein. Wen Huis "RED" war ein Höhepunkt des Weimarer Kunstfests.
Aber nicht nur die Reflexion, sondern auch die pure Reproduktion des Vergangenen kann Augen und Ohren öffnen.
In Sergej Prokofjews extrem selten gespielter "Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution" greift der Dirigent zum Megaphon.
"Auch wenn wir alle umkommen, der Feind darf uns nicht entgehen",
zitiert Kirill Karabatis Lenin durchs Megaphon. Und der Schlagwerker ballert mit einer Spielzeug-Maschinenpistole in die Luft. 200 Musiker der Staatskapelle Weimar, des Luftwaffenmusikkorps Erfurt, des Ernst-Senff-Chors Berlin begeisterten und erheiterten die Zuhörer. Denn das Pathos, die gesungene Rechtfertigung von Stalins Herrschaft, geraten mit Blick auf das blutige Entstehungsjahr 1937 zur zynischen Farce – oder mit 80 Jahren Abstand auch zur Ironie.

Selbstbespiegelung statt Fragen an die Vergangenheit

Stimme: "1. 2. 3. Die Revolution und ihre Enkel."
Erinnerung und Nachdenken über die Spuren des Sozialismus kann auch im kleineren Rahmen stattfinden. Das Kunstfest Weimar zeigt dies mit thematischen Stadtführungen zu Spuren des Sozialismus in der Stadt und mit drei Ausstellungen, die bildnerisch den Blick zurückwerfen. Die Lesereihe "Völker, hört die Signale!" führte zu spannungsgeladenen Begegnungen mit bekannten und unbekannten Texten von Wladimir Majakowsi bis Volker Braun.
Stimme: "1. 2. 3. Die Revolution und ihre Enkel."
Das dokumentarische Theater der jüngsten Kunstfest-Darsteller suchte die direkte Konfrontation zwischen Jugendlichen und ihren Eltern bzw. Großeltern. Was habt ihr damals gemacht? Warum habt ihr mitgemacht? Was ist aus eurem Traum einer gerechten Gesellschaft geworden? Das Theaterkollektiv "ongoing project" versuchte sich daran – und scheiterte. Selbstbespiegelung statt Fragen an die Vergangenheit, Regieeinfälle statt Fakten, die auf den Tisch kommen. Die jungen und alten Darsteller gaben sich alle Mühe und zeigten zumindest in der letzten halben Stunde, in welche Richtung der Abend hätte gehen können.
"Im Musikunterricht könnte man da jetzt ganz viel analysieren. Zum Beispiel, dass eben diese Lieder ganz oft dieses Damm-Da-Dammdada. Also erst diese Quarte, und dann immer so aufbauend. Genau! Also, wenn wir das richtig zackig singen wollen, dann heißt das natürlich auch diese ganzen Punktierungen bißchen kräftiger und bewußter nehmen. Also dieses '-niere, wie Ernst Thälmann.' Niere – klingt doch lustig – oder!?"
Aber nicht einmal das Scheitern kann man Kunstfest-Chef Christian Holtzhauer in diesem Jahr verübeln: Er hat es verstanden, die richtigen Projekte zu kombinieren, eine kluge Mischung aus Einladungen und Eigenproduktionen, hat die richtigen Fragen gestellt und dem Affen im Zweifel lieber zu viel als zu wenig Zucker gegeben. Ein Scheitern in einem Projekt kann man ihm da fast noch positiv anrechnen. Für den Versuch. Im nächsten Jahr kuratiert Holtzhauer sein letztes Kunstfest, bevor er ans Nationaltheater Mannheim geht. Das diesjährige Programm zu übertreffen dürfte ihm nicht zu leicht fallen.
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