100 Jahre Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig

Gedächtnis der Nation

Blick auf die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig.
Blick auf die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig. © picture alliance / Jan Woitas
Von Bastian Brandau  · 29.08.2016
In Leipzig wurde im September 1916 der Neubau der Deutschen Nationalbibliothek eingeweiht. Das monumentale Gebäude beherbergte nun die Institution, deren Aufgabe es ist, sämtliche deutschsprachige Literatur zu archivieren und sie für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das geschah damals anders als heute und auch das Publikum hat sich gewandelt.
Vor 100 Jahren zog die Deutsche Nationalbibliothek in ihr neues Zuhause am Deutschen Platz in Leipzig. Sie startete mit dem Auftrag, von nun an jedes in Deutschland und jedes auf Deutsch erschienene Buch zu archivieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mehr Menschen sollte der Zugang zu Bildung verschafft werden. Gleichzeitig wurde die neue Bibliothek zum Gedächtnis der noch jungen deutschen Nation stilisiert.
Das Publikum war damals aber noch ein ganz anderes. Einfach so recherchieren für Studierende oder Journalisten war nicht denkbar. Heute stellt der Jahresbeitrag von 42 Euro die größte Hürde für eine Nutzung der Bibliothek dar. 1916 seien die Zugangsbeschränkungen viel höher gewesen, erzählt Michael Fernau, Direktor der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig.
"Sie mussten früher sehr viel stärker betonen, dass sie forschen, wenn sie mit dieser Literatur arbeiten. Denn die Ausgangsidee war ja die, dass diese Sammlungen für ewig Bestand haben sollen und das dokumentieren, (…) was die deutsche Kultur mitgeprägt hat. Und das heißt natürlich, diese Bücher sollten nicht binnen weniger Jahre zerlesen sein und nicht in so einer Kaffeehausatmosphäre mit Vergnügen gelesen werden, sondern anstrengend sein und ernst genommen werden."

Lesen war kein Vergnügen

Der ernsthafte Umgang mit dem geschriebenen Wort hat sich lange gehalten.
Fernau: "Wir haben erst in den letzten Jahrzehnten ein deutlich entspannteres Verhältnis dazu. Heute fragt keiner, ob Sie Ihr Buch jetzt aus Vergnügen lesen oder als Literaturwissenschaftler. Das war früher anders."
Heute bekommt man in der Deutschen Nationalbibliothek mit einer Leichtigkeit Bücher, von der frühere Nutzer nur träumen konnten. Online-Bestellung und anschließende Abholung sind zur Selbstverständlichkeit geworden.
Einen entscheidenden Unterschied gibt es hier jedoch zu großen Universitätsbibliotheken: Die DNB ist die größte Präsenzbibliothek Deutschlands. Nutzer können Bücher nicht mitnehmen, sondern es darf nur im Lesesaal mit ihnen gearbeitet werden.
Auch an Zeitschriften wird erforscht. Die im Krieg unzerstört gebliebene DNB ist einer der wenigen Orte, an denen auch noch komplette Jahrgänge von Zeitschriften erhalten geblieben sind.

Viel Platz und Ruhe im Lesesaal

Für viele Studierende ist tatsächlich vor allem der Jahresbeitrag von 42 Euro eine große Hürde. So wirklich lohnt sich das dann erst, wenn man an einem längeren Projekt arbeitet. Daher kommen viele Nutzer her, die Abschlussarbeiten oder Dissertationen schreiben.
Sie nehmen dabei aber nicht einmal unbedingt die Dienstleistungen der DNB in Anspruch. Ihnen geht es vor allem um die entspannte Atmosphäre mit viel Platz und Ruhe im Lesesaal, dem Herzstück der DNB. Das war zu DDR-Zeiten noch ganz anders, erinnert sich Jörg Räuber, Leiter der Benutzung und Bestandserhaltung. Damals sei es hier immer voll gewesen, schon aus dem einfachen Grund, dass es viele Bücher schlicht nur in Leipzig gab.
Jörg Räuber: "Das ist ein Produkt der DDR-Mangelwirtschaft. Damals verfuhr man nach dem Prinzip: Ein Land, ein Buch. Alles was es also an westlicher deutschsprachiger Literatur gab, haben wir gesammelt, weil es ja unserem Sammelprinzip entsprach. Wir sind auch zu DDR-Zeiten weiter von den bundesdeutschen oder in der Bundesrepublik ansässigen Verlegern unterstützt worden. Die haben nach wie vor ihre Exemplare kostenlos nach Leipzig geschickt. Das hätte sich ja kein Mensch kaufen können alles. Und die Universitätsbibliotheken hatten nie das Geld, die Westliteratur oder auch die gute Fachliteratur, zu kaufen."

Nicht alles war für die Öffentlichkeit

Allerdings war nicht immer die gesamte Literatur für jeden zugänglich. Im "Sperrmagazin", einem Speziallesesaal verschwand damals alles, was sich gegen die DDR oder die sozialistischen Ideen richtete. Einsehen durfte das nur, wer einen triftigen Grund hatte und die Unterstützung eines Professors, erklärt Direktor Michael Fernau.
"Sie konnten als Wissenschaftler in der DDR sehr wohl auch mit unerwünschter oder vielleicht auch politisch heikler Westliteratur arbeiten, sie brauchten dafür nur besondere Erlaubnis. Und dann durften Sie auch nur dieses eine Werk nutzen."
Die Deutsche Nationalbibliothek lässt derzeit ihre Geschichte während der DDR und in der NS-Zeit untersuchen, die Ergebnisse sollen 2017 präsentiert werden. Denn beide Diktaturen benutzten die DNB zu ihren Zwecken.
Noch heute gibt es übrigens Bücher, die nicht für jeden zugänglich sind. Wenn auch eher nicht aus politischen Gründen, sondern von der Bundesprüfstelle gesperrte Literatur oder in Streitfällen wie bei Plagiaten und Rechtsstreitigkeiten.

Stetige Erweiterung

Das Gedächtnis der Nation wächst beständig seit 1916 und wurde schon viermal um Neubauten erweitert. Bald muss wohl erneut angebaut werden. Denn auch in Zukunft werde man Literatur in Buchform konsumieren, da ist sich Jörg Räuber sicher. Trotz aller auch von der Nationalbibliothek vorangetriebenen Digitalisierung:
Räuber: "Wir gehen davon aus, dass sich irgendwann ein Verhältnis herausbilden wird. Für bestimmte Informationsmedien und -bedürfnisse gibt es natürlich immer stärker die mediale Form und Online-Datenbanken. Das gedruckte Buch wird trotzdem nicht aussterben. Es wird sich höchstens ein bisschen reduzieren."
(ajo)
Hier gibt es das vollständige Manuskript als pdf-Version und im barrierfreien txt-Format.