100. Geburtstag von Heinrich Böll

"Er war immer auf der Seite des Richtigen"

Heinrich Böll 1983 bei einer friedlichen Sitzblockade gegen die Pershing-2-Depots der USA in Mutlangen in Baden-Württemberg
Heinrich Böll 1983 bei einer friedlichen Sitzblockade gegen die Pershing-2-Depots der USA in Mutlangen in Baden-Württemberg © picture-alliance / Berlin_Picture_Gate / Manfred Kraft
Helmut Böttiger im Gespräch mit Frank Meyer · 19.12.2017
Ein Einzelgänger, ein Querkopf, der immer auch den Mainstream attackierte - so charakterisiert Literaturkritiker Helmut Böttiger den Schriftsteller Heinrich Böll. Seine Milieubeschreibungen seien zeitlos und sein Kampf gegen die Hysterie in den Medien ungeahnt aktuell.
Frank Meyer: In dieser Woche wird der hundertste Geburtstag von Heinrich Böll begangen, dem ersten deutschen Literaturnobelpreisträger nach dem Zweiten Weltkrieg, 1972 hat er den Preis bekommen. Damals war er ein sehr viel gelesener, sehr anerkannter Autor. Später hat man dann öfter gehört, Heinrich Böll, das sei so ein Gutmensch, der moralisch überladene Romane gelesen habe, der zu oft als engagierter Intellektueller aufgetreten sei – eine Gestalt von Gestern. Hier sind einige Stimmen von Schülern, die sich heute mit Heinrich Böll beschäftigt haben.
"Meiner Meinung nach ist es halt immer noch ziemlich aktuell, was er gesagt hat, weil Heinrich Böll war ja sein Leben lang nie zufrieden. Er hat immer dagegen geschrieben, provoziert und so was."
"Der war halt überzeugter Pazifist."
"Man kann schon sagen, dass er auf eine gewisse Weise rebellisch ist."
"Also ich finde schon, dass er sehr gute Ansichten hatte und sich auch nicht der Meinung von anderen angepasst hat, sondern immer seine Meinung hatte."
Das sagen Schüler über den Kölner Schriftsteller Heinrich Böll. Bei uns im Studio ist jetzt der Literaturkritiker Helmut Böttiger. Wir wollen über Böll reden. Der war rebellisch, haben wir gerade gehört von einem Schüler. Würden Sie das auch sagen? War er ein Rebell oder eher doch ein altmodischer Gutmensch.

"Heinrich Böll hatte eine Utopie vor Augen"

Helmut Böttiger: Ja, es ist interessant, dass die Schüler heute ihn plötzlich wieder kritisch finden. Er war natürlich ein Rebell, und das Wort "Gutmensch" kam interessanterweise erst auf, als Heinrich Böll gestorben ist. Er ist 1985 gestorben, und das war in einer Zeit, als dann plötzlich die Rahmenbedingungen sich ändern und das Wort "Gutmensch" als Schimpfwort erfunden wurde.
Und Heinrich Böll war die Inkarnation des Gutmenschen, das heißt, dass er eine bessere Welt vor Augen hatte, dass er eine Utopie vor Augen hatte, eine andere Gesellschaft wollte und immer eindeutig auf der Seite des Richtigen war und gekämpft hat als kritischer Kopf. Und das war Mitte der 80er-Jahre plötzlich nicht mehr der Zeit entsprechend. Ich erinnere mich an eine Ausgabe der Satirezeitschrift "Titanic". Genau nach dem Tod von Heinrich Böll 1985, wo er als Gutmensch vollkommen in den Senkel gestellt wurde, als moralisch-didaktischer Autor, den wir nicht mehr brauchen.
Meyer: Einige haben sich dennoch weiter auf ihn bezogen. Die Grünen zum Beispiel haben ja ihre parteinahe Stiftung nach Heinrich Böll benannt. Das war dann etwas später, 1996. Wenn man sich anschaut, wo er politisch stand, war er denn so eine Art Grüner, bevor es die Grünen überhaupt gab?
Böttiger: Aus heutiger Sicht könnte man das fast sagen, wobei Böll ist dadurch definiert, dass er sich nicht einer Partei angeschlossen hat. Er war immer ein Einzelgänger, ein Querkopf, der immer auch gegen den Mainstream attackierte, oft auch sehr polemisch, sehr mit heißem Blut, ein Hitzkopf manchmal geradezu, wenn ihm was gegen den Strich ging. Einer Partei hat er sich nie untergeordnet, und auch so ein Missverständnis, dass man denkt, er sei so ein Linksliberaler.
Es gibt furchtbare Attacken von ihm gegen die SPD, geradezu in den 60er-Jahren, als Willy Brandt ein Hoffnungsträger war. Er sagte zur Gruppe 47, zu Hans-Werner Richter, lasst endlich die Finger von dieser fiesesten und miesesten aller Parteien, der SPD!
Und die Grünen, das war in den Anfangszeiten der Grünen, als die noch nicht so richtig als Partei, als etablierte Partei erkennbar waren, so als Basisbewegung, da hatte er große Sympathien, in Mutlangen, bei der Blockade der Pershing-2-Depots der USA, da war er dabei.
Meyer: Da ist auch so ein ikonografisches Foto von ihm entstanden, wie er da mitten unter den Blockierern sitzt.
Böttiger: Genau. Das war sehr ikonografisch, und da erschien er so als einer, der auf der richtigen Seite war, und das entsprach seinem Bild. Ich könnte mir vorstellen, dass er später bei den Grünen auch Schwierigkeiten gehabt hätte, als sie sich als Partei konkretisierten.

Literatur stellte die Fragen, die die Politik nicht stellte

Meyer: Wenn wir uns mal anschauen, nach jetzt dieser politischen Einordnung, wie es um die Aktualität seiner Bücher eigentlich heute steht – er hat ja gegen die Verhältnisse angeschrieben der 50er- und 60er-Jahre, vor allem in den Siebzigern wurde er dann etwas weniger produktiv. Diese Zeit ist ja für uns jetzt historisch geworden, die 50er-, 60er-Jahre. Ist denn seine Auseinandersetzung mit den Verhältnissen dieser Zeit für uns noch interessant?
Heinrich Böll, aufgenommen am 29. September 1983.
Heinrich Böll, aufgenommen am 29. September 1983.© dpa
Böttiger: Vermutlich ist seine Haltung das Interessante, also die Haltung des Widerständigen, der gegen den gesellschaftlichen Mainstream verstieß. Und in historischer Perspektive ist es natürlich so, dass die 50er-, 60er-Jahre uns heute sehr ferngerückt sind. Das war eine Zeit, als die Literatur die Fragen stellte, die in der Politik nicht gestellt wurden. Von daher ist es auf die heutige literarische Situation gar nicht mehr zu übertragen.
Damals, im Parlament in Bonn, wurden ganz andere Dinge diskutiert als gesellschaftlich notwendig schien, und die Schriftsteller legten die Finger in die Wunde, vor allem die Verdrängung des Nationalsozialismus, der Massenmord an den Juden. Erst durch die Auschwitz-Prozesse Mitte der 60er-Jahre wurde die Dimension von Auschwitz gesellschaftlich einigermaßen bewusst, und die Schriftsteller, vor allem Heinrich Böll, schon früh in den 50er-Jahren, haben das thematisiert, also gesellschaftliche Brennpunkte thematisiert.
Und das ist eine Rolle des Schriftstellers, die damals – er sagte es im Rückblick selbst – fast überfrachtet war, dass die Literatur eine Bedeutung annahm, die ihrer realen Macht gar nicht entsprach. Das ist aus heutiger Sicht etwas sehr Hervorgehobenes.
Aber ich glaube, die Haltung, dass die Literatur nicht sich den kommerziellen politischen Moden, den Denkmoden unterordnet, dass sie nicht so an einem Strang zieht mit dem allgemeinen Mediendiskurs, diese Haltung wird heute vielleicht wieder aktueller, als es die letzten zwei, drei Jahrzehnte schien.
Meyer: Und gäbe es da ein Buch von Heinrich Böll, das da beispielhaft für eine solche Haltung wäre und dass Ihnen besonders aktuell vorkommt vor diesem Hintergrund?

"Die verlorene Ehre der Katharina Blum" ist ungeahnt aktuell

Böttiger: Gerade heute denkt man natürlich wieder an "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", 1974, das war auf dem Höhepunkt dieser Baader-Meinhof-Hysterie, kann man sagen. Der Terrorismus der Rote-Armee-Fraktion, der war ja Anfang der 70er-Jahre in der Form noch nicht richtig erkennbar, und Heinrich Böll hat da sehr auf staatspolitische Dimensionen gesetzt, dass man den Rechtsstaat bewahren muss, dass diese sich verselbstständigende Hysterie der "Bild"-Zeitung extrem zu bekämpfen ist, weil da sehr populistische Tendenzen geschürt worden sind.
Und wenn man das heute mit den Entwicklungen im Internet, den Manipulationsmöglichkeiten im Internet, mit der Ära Trump – wenn man da "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" liest, dann erscheint das plötzlich ungeahnt aktuell. Weil dies Mediensprache, die sich verselbstständigt habende Mediensprache, das Ausgeliefertsein an scheinbare Informationen, an eine Panikmache, das wurde damals, Anfang der 70er-Jahre, von Böll sehr voraussagend, antizipatorisch beschrieben, ist ungeahnt aktuell.
Meyer: Und neben diesem widersprechenden Heinrich Böll gibt es, glaube ich, auch noch einen anderen, ganz wesentlichen Grundzug in seinem Werk. Gerade sind ja seine Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg wieder oder zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht worden, jetzt, kurz vor seinem 100. Geburtstag. Das hat ja noch einmal den Blick darauf gedrängt, dass der Krieg für ihn so eine Urerfahrung war, die sich ganz stark durch sein Werk gezogen hat. Wo taucht das denn am stärksten auf?
Böttiger: Der Krieg, das muss man sich vorstellen, er war knapp 20 Jahre alt, als er zum Arbeitsdienst eingezogen wurde und dann als Soldat. Er war sieben Jahre lang unter Kommando, im Grunde die Zeit des jungen Erwachsenen. Das hat ihn extrem geprägt. Das war auch eine traumatische Erfahrung, das merkt man in den frühen Texten, dass der Krieg die Dimension war – das durfte nie wieder vorkommen, das hat im Grunde sein frühes Leben sehr zerstört.
Und man merkt es, dass er im Grunde erst politisiert wurde, als die Bundesrepublik dann zur Wiederbewaffnung schritt. Die Einführung der Bundeswehr, die Remilitarisierung, das war für ihn der Punkt, wo er dann auch gesellschaftspolitisch zu Denken anfing. Eigentlich war er sehr moralisch, katholisch geprägt und nicht direkt politisch. Und durch die Wiederbewaffnung trat diese politische Dimension bei ihm ins Feld. Und in den frühen Romanen ist die Erfahrung des verheizten Soldaten ganz stark im Zentrum, und dass der Krieg an sich das Unheil ist, da unterscheidet er sich extrem auch von einem Schriftsteller wie Ernst Jünger.
Es ist bei ihm ganz deutlich spürbar, wie Menschen vernichtend, zerstörend die Situation im Schützengraben ist. Und das zieht sich bei ihm durch, auch als Kritik an Herrschaftsstrukturen, an Autoritätsstrukturen. Er war vor allem immer ein antiautoritärer Kopf, das ist das Grundlegende.
Meyer: Wenn wir mal auf sein Schreiben schauen, und wenn man sich fragt, wer steht eigentlich für die Modernisierung der deutschen Nachkriegsliteratur, dann fällt einem Uwe Johnson natürlich ein, Günter Grass, Ingeborg Bachmann. Böll fiele einem erst mal nicht ein für ein modernes Schreiben. Ist das eigentlich gerecht? Übersieht man da etwas?

Bölls Sprache stand im Dienst einer Botschaft

Böttiger: Bölls Größe in den 50er-Jahren lag schon darin, dass er die Gesellschaft ganz genau analysierte und beschrieb in einer hautnahen realistischen Sprache. Das ist wahr. Man merkt dann, 1959 erschien "Billard um halb zehn". Das war das große Jahr, in dem auch die "Blechtrommel" erschien und "Mutmaßungen über Jakob" von Johnson. Diese Bücher wurden in einem Atemzug genannt. Und in diesem "Billard um halb zehn" von Heinrich Böll merkt man, dass er sich mit der Moderne auseinandergesetzt hat. Er hat offenkundig auch William Faulkner gelesen wie Johnson. Er arbeitet in diesem Roman mit Brüchen, mit Perspektivwechseln. Also, er hat sich sehr die Moderne erarbeitet.
Dennoch merkt man auch in "Billard um halb zehn", dass sein eigentlicher Impetus ein moralischer ist, ein antiautoritärer, und dass die Sprache im Dienst einer Botschaft steht. Und "Billard um halb zehn" ist ein großartiger Roman, der die Bundesrepublik, das Milieu der Bundesrepublik, die verschiedenen sozialen Schichten auch aus heutiger Sicht ganz eindringlich schildert. Das ist in gewisser Weise sogar zeitlos geblieben.
Aber die Moderne war für Böll etwas, was er sich sozusagen draufschaffen musste. Und er hat nicht genuin ein primär ästhetisches Interesse gehabt. Das ist das Interessante bei ihm, ein Zwiespalt, der sich bis in die letzten Texte durchzieht.
Meyer: Und wie ist das jetzt eigentlich heute? Sie haben ja vorhin darüber gesprochen, wie dann in den Achtzigern so eine Art Abwertung oder Distanzierung von Heinrich Böll vor sich ging. Vor Kurzem hat die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" lauter Lobreden heutiger Autoren auf Heinrich Böll veröffentlicht. Und jetzt, so rund um den hundertsten Geburtstag – mir scheint, dass die Zeichen jetzt wieder auf Versöhnung stehen. Kommt Ihnen das auch so vor?
Böttiger: Ja, die Zeiten der 80er-Jahre, als man diese Absetzbewegung von der 68er-Bewegung, von diesen linksliberalen Meinungsführern, das war in den 80er-Jahren sehr stark, da waren die Achtundsechziger alle schon in den Schulen, an den Universitäten, und man wollte sich von so Autoritätsleuten wie Heinrich Böll, die eine moralische Autorität für sich beanspruchten, absetzen.
Die Zeit ist mittlerweile vorbei. Auch die Generation Golf ist ja mittlerweile ein bisschen verunsichert und haltlos. Man merkt, dass gesellschaftspolitische Themen heute vielleicht brisanter sind denn je. Und es gibt so eine dumpfe Ahnung, dass die Wohlstandsgesellschaft allein, die individualisierenden Konsummöglichkeiten, die Freuden des Hedonismus, dass das nicht das letzte Wort ist. Und da steht Böll natürlich schon für eine kritische Gegenposition.
Meyer: Heinrich Böll. Am Donnerstag wäre er hundert Jahre alt geworden. Wir haben mit Helmut Böttiger darüber gesprochen, ganz herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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